27.6.16

Von Kesseln, Hüten und Drachen

Ich schlendere mit staunenden Augen durch den Wald. Der Sommer hat ganze Arbeit geleistet. Was gibt es am Wegesrand nicht alles zu sehen: Wurmfarn, Lichtnelke, Waldziest, Nelkenwurz, Ruprechtskraut, Braunelle, Knoblauchrauke ...Einige der Pflanzen kenne ich, andere muss ich später nachschlagen. „Heilkraut, Zauberkraut, Hexenkraut“, flüstern meine Bücher mir zu.

Das macht mich sensibler, aufmerksamer und ich schaue noch genauer hin. Ich erkenne Muster in den Zweigen des Efeus, wenn er die Bäume umarmt. Ein glatter Stamm hat plötzlich ein Gesicht und Äste werden wie Arme nach mir ausgestreckt. Das weckt meine Sehnsucht nach Feen und Elben. Doch wohin ich auch blicke, die scheinen sich vor mir zu verstecken. Nur wenn ich die Augen fast ganz verschließe, kann ich ein Flimmern, ein Glitzern, eine Bewegung erkennen. Will ich es näher betrachten, ist es verschwunden.

Wieder Zuhause vergewissere ich mich, ob das Dreibein und der Kessel noch an seinem gewohnten Ort sind. Sie scheinen mir ein wenig vorwurfsvoll – zu lange habe ich sie in ihrer Ecke stehen lassen. Ich putze alles und stelle es in der Sonne auf. Vielleicht sollte  ich mir eine Suppe kochen? Aus Sauerampfer, Bernnesseln und den ersten Kartoffeln.

Stattdessen nehme ich den Spitzhut vom Haken und probiere vor dem Spiegel, ob er noch passt. Und weil ich mich nicht allein auf mein Urteil verlassen will, laufe ich nach draußen. Auf dem Dach sitzen zwei der schwarzen Gevattern. Ich rufe zu ihnen hinauf: „Sieht das gut aus?“ Sie wenden den Kopf hin und her. Scheinen zu zweifeln. Dann endlich kommt ein zustimmendes „Krack“ von ihnen. Würdevoll schreiten sie auf dem First entlang und nicken mit dem Kopf. Nur der Eichenhäher fliegt laut kreischend davon. Aber der war ja schon immer ein Feigling.

Ich laufe in den Garten und pflücke Minze, Melisse, Johanniskraut und Jougilang, um mir einen Tee aufzugießen. Allerdings benutze ich doch lieber eine Kanne und nicht den Kessel. Selbst auf die Gefahr hin, dass er restlos beleidigt ist. Mit meinem Gebräu setze ich mich dann unter den Apfelbaum, um zu lesen.

Und weil es keine Zufälle gibt, stoße ich kurze Zeit später auf einen Satz von Tolkien. „Die Welt, die auch nur die Vorstellung eines Drachen enthielt, war reicher und schöner um den Preis jedweder Gefahr.“

Ich nicke so heftig, dass mir der Hut, den ich noch immer trage, vom Kopf rutscht. Er fällt ins Gras. Aus den Augenwinkeln sehe ich etwas weghuschen. Eine kleine Eidechse hat sich auf den Steinen des Weges gesonnt und läuft nun erschrocken davon. Ich rufe ihr hinterher: „Keine Angst, kleiner Drache. Das ist nur ein Hut.“ Aber sie glaubt mir wohl nicht.

 Eine Verkehrsinsel in Frankreich - Foto: Juliane Wriedt

Keine Kommentare: